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Der Zug des Vergessens

Warum teile ich diese Geschichte überhaupt? Es war ein prägendes Erlebnis in Bezug auf die Photographie. Aber am liebsten würde ich das dunkle Tuch des Schweigens über die Geschichte und das Bild legen.

Warum ich das nicht tue? Ich habe etwas daraus gelernt und mein Verhalten geändert.

Es ist Anfang Januar 2010. Meine EOS 50D liegt fast unberührt und neu duftend auf meinem Schreibtisch. Der Weihnachtsmann hat sie mir im alten Jahr gebracht. Besser als alles, was ich vorher hatte. Sie wird meine EOS 350D ablösen, die doch schon die eine oder andere Abnutzungserscheinung hat nach nur dreieinhalb Jahren. Nur so richtig ausprobiert habe ich die neue Kamera noch nicht.

Es herrschen deutlich Minusgrade draußen. Zwar bin ich kein Trainspotter und könnte mir nicht vorstellen, jemals einer zu werden – aber ich bin ein Eisenbahnfreund und wohne nicht weit entfernt von einer Eisenbahnlinie. Und genau auf dieser Linie soll heute ein Dampfzug vorbeikommen. Mit der 41 360 bespannt – einer großen Dampflok, die durch den Schnee fährt? Das wäre schon ein tolles Motiv und kommt so schnell nicht wieder. Ich meine: Wann haben wir hier schon mal Schnee?

Nur ein paar Kilometer von zu Hause entfernt führt ein langes, gerades Stück unter einer alten, schmiedeeisernen Brücke hindurch. Eine der originalen, alten Brücken, welche noch mit Nieten zusammengehalten werden. Oben drauf liegt Kopfsteinpflaster und die Brückengeländer sind verziert und verrostet – ein toller Spot, nicht nur um eine alte Dampflok zu fotografieren. Auch für Portraits ein tolles Setting.

Es gab da nur einen Haken an der gepanten Einweihung meiner Kamera: Der Zug fuhr recht früh morgens. Also musste ich früh aufstehen und warf zwei Stative, neue und alte Kamera und Kabelauslöser ins Auto und fuhr hinaus in die verschneite Landschaft. Ich hätte auch noch eine Thermoskanne Tee mitnehmen sollen. Aber das habe ich erst später bemerkt.

Ich hatte mir 10 min Pufferzeit gelassen um die Stative aufzubauen. Die EOS 350D wollte ich dabei in Fahrtrichtung des Zuges auf die Brücke stellen, um die Schneeverwehungen des Zuges nach der Vorbeifahrt zu fotografieren. Die EOS 50D baute ich mit fast frontalem Blick auf die Strecke auf, so dass die Schienen diagonal im Bild liegen.

Schnell war alles aufgebaut und es war nichts weiter hier draußen als ich, meine Kameras und der Schnee. Es ist irre, wie sehr der Schnee alle Geräusche dämpft. Es ist nichts zu hören. Absolute Stille! Wirklich nichts. Lange nichts. Gar nichts. Acuh nach 10 Minuten nicht.

Der Zug kommt nicht pünktlich. Ich warte. Eine Viertelstunde. Meine Füße werden kalt. Ich schaue beständig in die trübe Entfernung. Die einleitende Kurve kann ich nicht erkenne. Durch den Schnee werde ich den Zug aber auch sehr spät hören. Ich warte weiter, halte den Horizont immer im Blick. Eine halbe Stunde Verspätung. Die Kälte kriecht die Ärmel hoch. Ich beginne, auf der Brücke auf und ab zu laufen, den Blick aber immer am Horizont. War ich vielleicht zu spät und der Zug ist schon vorbei?

Nach einer Dreiviertelstunde nehme ich mein Handy und recherchiere. Ich rufe beim Verein Westfalendampf an, vielleicht wissen die, wo und wann der Zug kommt. Und in der Tat bekomme ich jemanden an die Leitung. Nein, nicht Leitung: Mobiltelefon. Ich verstehe kaum ein Wort wegen dem Lärm. Ja, er stehe direkt auf oder an der Lok, genau verstehe ich es nicht. Aber ich glaube es gern, bei dem Lärm. Sie wären schon mit einer Stunde Verspätung losgefahren. Wegen Problemen auf der Strecke sind sie rückwärts unterwegs und da können sie nicht so schnell fahren. Daher könnten sie in Schwerte nicht wie geplant die Schleife fahren, sondern müssten rangieren. So oder so ähnlich klang es vom Zug zu mir herüber. Also bis zu mir würden sie wohl noch eine Stunde brauchen.

Was tun? Abbrechen? Nein, dann wäre das frühe Aufstehen, das Warten und Frieren umsonst. Ich will dieses Bild!

Und so vergeht wirklich noch eine Stunde, in der ich auf der Brücke umherlaufe, mir die Landschaft anschaue. Die Ruhe zu genießen, dafür fehlt mir der Sinn. Ich warte. Meine Füße haben inzwischen das Gefühl verloren. Meine Nase läuft. Umweit der Brücke hat früher mal ein Streckenposten gestanden. Es war sicher kein stressiger Job hier draußen. Aber immer konzentriert bleiben, wenn nichts passiert? Gar nicht so einfach.

Die Kameras sind im Sleep Mode um den Akku zu schonen bei dieser Kälte. Ich muss nur eine Taste drücken und sofort sind sie bereit. Zur Überprüfung der Belichtung habe ich Testfotos von der leeren Strecke gemacht. Ab und an ist mal einer der übliche Dieseltriebwagen vorbei gekommen. Die EOS 50D habe ich im Speed-Modus. Damit schafft sie 5 Bilder/s.

Dann kommt der Zug. Man sieht Schnee am Horizont aufwirbeln und dann auch die Dampfsäule aus dem umgebenden Weiß herauslösen. Wie vermutet höre ich zunächst nichts. Erst als der Zug näher kommt hört man das rhythmische Zischen der Lok. Ich greife zum Auslöser und bei noch recht großem Abstand mache ich die ersten Bilder. Eigentlich möchte ich die Lok groß, halb links vorn im Bild, aber vorher auch eine Serie, die zeigt, wie der Zug sich annähert.

Es klickt genau drei mal – und dann nicht mehr. Ich drücke den Auslöser noch mehrmals, aber es klickt nichts mehr – und der Zug ist nicht einmal halbwegs Bild füllend heran gekommen! Ich schaue auf das Display: „Full CF“ steht dort.

Mir sticht es durch das Hirn: Ich Vollidiot habe zwar zu Hause geschaut, ob eine CF-Karte in der Kamera ist. Aber mir den Bildern aus dem letzten Urlaub und von Weihnachten war sie schon so voll, dass von den neuen, größeren Dateien der EOS 50D nur noch wenige drauf passten!

Während dieser Erkenntnis zeiht mit lautem Getöse die BR 41 unter mir hindurch und zwei Sekunden später stehe ich in einer Wolke künstlichen Nebels aus Dampfschwaden, die nach Steinkohlenfeuer riechen.

Ich packe meine Sachen ein und fahre nach Hause. Ich ärgere mich über mich selbst und meine Dummheit. Und zu Hause dusche ich erst einmal und mache ich mir eine ganze Tasse heißen Tee. Beides beruhigt und wärmt. Meine Fußsohlen tauen langsam wieder auf.

Und noch zehn Jahre später schaue ich vor jedem Einsatz der Kamera, ob ich eine Speicherkarte eingelegt habe und überprüfe auf dem LCD-Display die Hochrechnung der möglichen Bilder!

Spätestens nach diesem Erlebnis werde ich sicher nicht mehr zum Trainspotter.

Und für die lustige Fahrt nach Winterberg – die wären fast gar nicht am Ziel angekommen.

 

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